Frankfurter Neue Presse – 19. November 2020
Kadir Boyaci und Nicolai Kehl, Forum für Interkulturellen Dialog
Gastkommentar

Die Frage nach einem angemessenen Umgang mit fundamentalistischen und gewaltbereiten Auslegungen des Islams beschäftigt die deutsche Öffentlichkeit in regelmäßigen Abständen. Jüngster Anlass sind die terroristischen Anschläge in Wien, Nizza und Dresden. In derselben Regelmäßigkeit lässt sich eine gesellschaftliche Unbeholfenheit erkennen, islamistischen Phänomenen effektiv zu begegnen. Diese Unbeholfenheit zeigt sich nicht zuletzt in der häufig erfolglosen Überwachung von Gefährdern und Gefährderinnen durch staatliche Institutionen, die Schlimmstes verhindern sollten. Sie zeigt sich mindestens in gleichem Maß in den Debatten über Islam und Islamismus.

Neben den bekannten Forderungen an Muslime und Musliminnen nach „Verurteilung, Distanzierung und ein[em] Friedensgebet“ (Sawsan Chebli), brachten Kevin Kühnert und Sascha Lobo mit Kritik an der „knalldeutschen Linken“ neue Impulse für die Debatte. Auch sie dürfe nicht schweigen. Das ist einerseits richtig, stieß andererseits intern gerade bei vielen durch Migrationsgeschichten geprägten Gruppen auf Unverständnis, die sich seit Jahren im Kampf gegen den Islamismus engagieren. Es darf nicht vergessen werden, dass liberale Muslime und Musliminnen nicht weniger zum Feindbild der Islamisten und Islamistinnen zählen wie „biodeutsche“ Christen oder Atheisten.

Bringt die Forderung von Kühnert und Lobo die Debatte voran? Ja, aber vielleicht nicht so offensichtlich, wie es scheint. Eine demokratische Gesellschaft muss sich von menschenfeindlichen Ideologien distanzieren. Im Fall des Islamismus birgt das die Gefahr, rechte Narrative zu befördern, die Islam und Islamismus gleichsetzen. Diese Angst wird allzu oft als Ursache für das Schweigen bezeichnet, geht aber am eigentlichen Kern des Problems vorbei. Es fehlt nicht nur die Fähig- keit, über Islamismus sprechen zu können, ohne Populisten und Populistinnen, Rassisten und Rassistinnen in die Hände zu spielen. Es scheint seit Jahren nicht zu gelingen, die zu erreichen, die zu Islamisten und Islamistinnen werden.

Das wird sich auch dadurch nicht ändern, dass die „knalldeutsche Linke“ ihr Schweigen bricht. Ohne Frage ist es ein Problem, wenn unser Mitgefühl mit Opfern und unsere Anerkennung von Leid aus politischen Gründen ungleichmäßig verteilt wird. Eine solche Kritik ist genauso berechtigt wie jene an der augenscheinlich mangelhaften staatlichen Überwachung von Gefährdern und Gefährderinnen. Das Problem wird aber nicht dann gelöst, wenn der Finger bereits am Abzug ist und auch der aufrichtigste gesellschaftliche Aufschrei wird den Terror nicht stoppen. Was tatsächlich helfen kann, ist eine Veränderung des Blickwinkels: Inklusion statt Exklusion.

In der Wissenschaft herrscht weitgehend Einigkeit darüber: Wer sich nicht als Teil dieser Gesellschaft fühlt, wer keine oder kaum soziale Bindungen hat und Opfer von Diskriminierung wurde, läuft Gefahr, sich zu radikalisieren. Islamistische Angebote können ihnen die Anerkennung, Gemeinschaft und (einfachen) Erklärungen bieten, die sie suchen. Primäre Aufgabe ist es deswegen nicht, sich von Extremisten und Extremistinnen zu distanzieren. Wichtiger ist es, diese Menschen aufzufangen, bevor sie sich radikalisieren. Dafür müssen die muslimischen Akteure und Akteurinnen gestärkt werden, die sich

für Freiheit und Gleichheit einzusetzen und sich gegen die islamistisch-politische Instrumentalisierung ihrer Religion wehren. Denn im selben Maß, wie es eine gesellschaftliche Frage ist, ist es eine inner-islamische. Und die kann die nicht-muslimische Mehrheitsgesellschaft nicht von außen lösen. Was sie kann, ist jene unterstützen, die die Konflikte in ihrem (demokratischen) Sinne austragen. Diese muslimischen Gruppen gibt es, auch wenn sie in der Öffentlichkeit nicht die Aufmerksamkeit erfahren, die wichtig wäre. Selbst reflektierte und aufmerksame Beobachter wie Kühnert und Lobo erwähnen sie höchstens beiläufig, wie sie sich im Nachhinein eingestehen mussten. Das Unwissen über die Zusammensetzung und Bedeutung der verschiedenen muslimischen Gruppen in Deutschland hat dabei ganz konkrete Auswirkungen: Immer wieder werden Vertreter und Vertreterinnen zu Sprechern der deutschen Muslime und Musliminnen auserkoren, die in enger Verbindung zur zunehmend autokratischen und anti-demokratischen AKP oder den radikal-islamistischen Muslimbrüdern stehen.

Ja, die politische Linke sollte ihr Schweigen brechen. Wenn das Ergebnis aber nicht eine bloße Betroffenheitsrhetorik sein soll, muss sich Deutschland ernsthaft mit den viereinhalb Millionen Muslimen und Musliminnen auseinandersetzen, die hier leben. Gerade sie haben die Möglichkeit, ihre Glaubensgenossen und -genossinnen vor dem Abdriften in den Radikalismus zu bewahren. Dazu bedarf es zugleich innerer Verständigung über die Bedeutung demokratischer Werte im Islam. Damit nicht nur diese problematischen Akteure zu Wort kommen, müssen sich demokratische Muslime und Musliminnen solidarisieren. Ansonsten bleiben jene die Wortführer, die radikale Ideologien mindestens tolerieren.