Frankfurt, 13. Juli 2021 – Fünf Jahre nachdem das türkische Militär versucht hat, die Erdoğan-Regierung gewaltsam zu stürzen, hat sich die Lage des Landes noch nicht entspannt. Human Rights Watch diagnostiziert eine Menschenrechtskrise, die sich in kontinuierlich hohen Asylersuchen widerspiegelt. Jüngste Entführungen aus dem Ausland zeigen die Radikalität, mit der der türkische Präsident gegen Andersdenkende vorgeht.
In der Nacht vom 15. auf den 16. Juli 2016 versuchte das türkische Militär die Erdoğan-Regierung gewaltsam zu stürzen. Die Regierung verhängte daraufhin den Ausnahmezustand und erklärte, dass die Europäische Menschenrechtskonvention teilweise ausgesetzt sei. Das Ende des Ausnahmezustands im November 2017 bedeutete nicht den Rückgang zur Normalität. Mit einer Verfassungsänderung im April desselben Jahres, die zu einer Fokussierung der Macht auf den Präsidenten führte, entwickelt sich die Türkei zunehmend zu einem autokratischen Präsidialstaat. Abgeordnete des Europarates warnten schon damals vor dem Abgleiten in eine Diktatur.
Minderheiten und Regierungskritiker:innen sehen sich zunehmend gefährdet. Oppositionelle werden verfolgt und unter Terrorverdacht gestellt, Gruppen wie Kurd:innen, Alevit:innen und Armenier:innen unterdrückt. Mit dem Austritt aus der Instabul-Konvention und jüngsten Gesetzesänderungen sind Frauen der Gewalt durch Männer zunehmend schutzlos ausgesetzt. Demonstrationen der LGBTQI Community wurden kürzlich mit dem Verweis eines Verstoßes gegen die Moral verboten und die Polizei reagierte auf Proteste mit Tränengas, Gummigeschossen und Festnahmen.
Eine besondere Stellung kommt der muslimisch geprägten Hizmet-Bewegung zu, die auch als Gülen-Bewegung bekannt ist. Sie stellt die größte Gruppe der von der türkischen Regierung Verfolgten dar. Erdoğan erklärte Gülen kurz nach dem Putsch zu dessen Drahtzieher. Inzwischen wurde die Bewegung in der Türkei als Terrororganisation (FETÖ) eingestuft. Beweise für eine Beteiligung gibt es bis heute nicht. Die Regierung ermittelte dennoch gegen über 600.000 mutmaßliche Sympathisant:innen, inhaftierte 96.000 Menschen, entließ Staatsangestellte und sprach Berufsverbote aus.
Internationale Ausmaße
Die Verfolgung überschreitet Landesgrenzen. Dazu zählen nicht nur Anstrengungen um die Auslieferung von Regierungskritiker:innen. Der UN-Sonderberichterstatter spricht von inzwischen über 100 ausländischen Entführungen durch den türkischen Geheimdienst. Als letztes Opfer gilt Orhan Inandi, der der Hizmet-Bewegung zugeordnet wird und für über 25 Jahre eine Schule in Kirgisistan leitete. Prominent war zuvor der Fall des deutschen Journalisten Deniz Yücel, dem Türkei-Korrespondent der Tageszeitung „Die Welt“. Yücel befand sich für ein Jahr ohne Anklage in Haft.
Kadir Boyacı, Geschäftsführender Vorstandsvorsitzender des Forums für Interkulturellen Dialog in Frankfurt, fordert deswegen eine klare Positionierung der Bundesregierung. Außerdem benötige es ein größeres Bewusstsein für die kritische Lage des Landes: „Die Gefahr, der Minderheiten und Andersdenkende in der Türkei ausgesetzt sind, ist in Deutschland nur wenigen bewusst. Gleichzeitig waren Türk:innen 2020 auf Platz vier der meisten Asylersuche in Deutschland.“ Seit dem Putschversuch suchten laut Angaben des Bundesministeriums für Migration und Flüchtlinge über 30.000 Menschen aus der Türkei Schutz in Deutschland.